Im Laufe eines Frauenlebens erfahren wir in unserem Körper unterschiedliche Ausprägungen. Die Jugend mit der Pubertät, die Phase der Fruchtbarkeit und die Zeit nach der Menopause. Ich weiß, dass die Männer in ihrem Körper diese Phasen ähnlich durchmachen, vielleicht nicht so markant. Wir gehören zur Natur der Erde, wir sind Teil von ihr, Männlein wie Weiblein, doch die weiblichen Kräfte wirken in Mutter Erde stark und so ist es nicht verwunderlich, dass die Frauen mit Göttinnen gleichgesetzt werden, die einen wesentlichen Ablauf in den Jahreszeiten darstellen: die Weiße Göttin, die Rote Göttin und die Schwarze Göttin. Wohlgemerkt: Göttinnen!
Seit Urzeiten lernten die Menschen von der Natur. „Du wirst mehr in den Wäldern finden als in den Büchern. Die Bäume und die Steine werden dich Dinge lehren, die dir kein Mensch sagen wird.“ (Berhard von Clairvaux, 1125) Unsere Vorfahren sahen, wie auch wir das tun, dass es Frühling, Sommer, Herbst und Winter gibt. Sie orientierten sich an den Sonnenständen, die z.B. die längste Nacht oder den längsten Tag bewirken. Da die ganze grüne Natur vom Licht lebt, entwickeln sich bei uns in den gemäßigten Breiten die Jahreszeiten. Für die alten Naturvölker und noch für die Germanen und Kelten waren in diesem Zusammenhang drei Göttinnen von großer Bedeutung: die Weiße, die Rote und die Schwarze Göttin.
Die Weiße Göttin steigt mit dem zunehmenden Licht von der Mutter Erde auf die Erdoberfläche und alles fängt zu wachsen und zu blühen an. Sie stellt im Leben einer Frau die Jugend dar: alles ist möglich, alles ist bunt und frisch. Im Laufe des Jahres wandelt sie sich in die Rote Göttin, die fruchtbar ist. Es gibt die ersten Beeren, die Ähren auf den Feldern werden vom Wind bestäubt und im Inneren reifen die Körner heran. Sie steht im Leben einer Frau für die fruchtbare Phase: Leben kann entstehen, die Schaffenskraft ist hoch, Lebenswege werden eingeschlagen und entwickelt. Im Herbst treffen wir die Schwarze Göttin, die erntet, die den milden Sonnenschein durch die bunten Blätter fallen lässt, die Pflanzen sich zurückziehen lässt, die zur Ruhe kommt, langsam in die Erde hinabsteigt, um dort in der Stille die Wandlung zur Weißen Göttin zu vollziehen. Sie symbolisiert die reife Frau bis ins hohe Alter: Die Früchte eines Lebens ernten und ehren, das Lebenstempo wird geruhsamer, die Wechseljahre sind abgeschlossen.
Diese Einführung ist der Einstieg zu einem für mich sehr einschneidenden Erlebnis: Ich betrete das Reich der Schwarzen Göttin.
Auf Zypern verbrachten wir mit unseren erwachsenen Kindern eine Ferienwoche. Da dort Linksverkehr herrscht, übernahm unser Sohn, ein sehr sicherer Fahrer, zu unserer Freude und Erleichterung die Autofahrten. Ab und zu fuhr auch unsere Tochter. Normalerweise erkunde ich ein fremdes Land am liebsten zu Fuß, doch heuer hinderte mich mein Knie und eine Verletzung. Wir waren im türkischen Teil Zyperns und somit waren die zahlreichen Plakate am Straßenrand auf türkisch. Meine Tochter, die zur Zeit Türkisch lernt, übersetzte Teile der Anzeigen, doch ich vergaß die fremden Worte sofort wieder. Meine Augen und mein Gemüt erfreuten sich sehr an der ursprünglichen Vegetation, am Meer und seinen Küsten. Im Kasino mit all seiner Geschäftigkeit fand ich es zwar interessant, doch zu schnell und zu laut. Als ich einmal an einer Selbstbedienungstheke ein Gericht bestellen wollte, das, wie vorher laut und deutlich gesagt wurde, ich aber nicht mitbekam, ausverkauft war, erntete ich schallendes Gelächter von meiner ganzen Familie.
Das war`s: Ich betrete das Reich der Schwarzen Göttin. Ich fühlte mich alt, Gehör nimmt ab, Bewegung ist eingeschränkt, Augen werden schlechter, Gedächtnis lässt zu wünschen übrig. Wow, welch ein Schmerz! Ich ließ meine Rote-Göttinnen-Zeit mit viel Tränen hinter mir, voll bewusst, dass einiges einfach vorbei ist. Keine ewige Jugend, kein Körper, der die enorme Spannkraft der Jugend erhalten hat, nein, vorbei!
Ich brauchte zwei, drei Tage, um mich zu ordnen, um die Bedeutung der Schwarzen Göttin erkunden. Wie gehe ich damit um, was kann ich Positves erkennen? Einiges, das mir sowieso schon schwer gefallen ist, sagte ich ab und spürte Erleichterung. Das brauch ich nicht mehr. Ich kann mich an den Früchten meines bisherigen Lebens erfreuen und das ist Etliches. Ich muss nirgends mehr „hier“ schreien, nur um mir etwas zu beweisen. Vorbei. Ich darf nun lernen, dass Langsamkeit etwas Wertvolles ist, dass Stille sehr viele eigene Gedanken und Erkenntnisse hervorbringt und dass ich mich sehr viel besser zeigen kann, so wie ich bin.
Ich betrete das Reich der Schwarzen Göttin.
Voll gut!
Die Kleider am linken Bildrand stellen die abgelegten Gewänder der Weißen und Roten Göttin dar.